Probenauftakt „Utopien der Digitalisierung“
Unbestritten steht die Digitalisierung als Technologieentwicklung auf einer Stufe mit der Erfindung des Buchdrucks: Sie verändert die Grundlagen unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens fundamental. Welche optimistischen Szenarien sind jenseits von Technikskeptizismus und Angst vor Veränderung möglich? Welche sind naheliegend? Was müsste sich ändern, damit die Digitalisierung weniger den Profiteur*innen des digitalen Plattformkapitalismus und deren Interessen dient? Wie kann die Digitalisierung den individuellen Lebensvollzug vereinfachen und bereichern? Und wie wollen wir mit der gewonnenen Freiheit umgehen, wenn ein großer Teil unserer Arbeit automatisiert wird?
Es sprechen:
Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Universität Tübingen
Es gehört inzwischen zu den gängigen Behauptungen der Zeitanalyse, dass ein neuer Faschismus droht, die Demokratie erodiert, Maschinen den Menschen verdrängen, die digitale Diktatur längst Wirklichkeit ist. Aus der Netzeuphorie der 1990er Jahre ist, eben auch in der Mitte der Gesellschaft, Totalpessimismus geworden. Das ist fatal. Denn wer resigniert, wird empfänglich für die Horrorvisionen der Emotionsproduzenten von rechts – und genau das ist heute die Gefahr. Gegen das oft unnötig pauschale Untergangsgerede stellt Bernhard Pörksen in seinem Vortrag die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft, eine Vision der Medienmündigkeit für das digitale Zeitalter. Er zeigt: Auf dem Weg zur redaktionellen Gesellschaft gilt es den Einzelnen zu befähigen, Informationen von Pseudoinformationen, Fakten von Gerüchten zu unterscheiden, letztlich also sein eigener journalistischer Gatekeeper zu werden.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht die Macht der öffentlichen Empörung und die Zukunft der Reputation und veröffentlicht – neben wissenschaftlichen Aufsätzen – Essays und Kommentare in vielen Zeitungen. Seine Bücher mit dem Philosophen Heinz von Foerster („Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) und dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun („Kommunikation als Lebenskunst“) wurden Bestseller. Im Jahre 2008 wurde Bernhard Pörksen zum „Professor des Jahres“ gewählt. 2018 erschien sein aktuelles Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ im Hanser-Verlag.
Nassima Sahraoui, Goethe Uni Frankfurt
So viel Freiheit wie in unserer Moderne hatten wir noch nie, so könnte provokativ formuliert werden. Was aber machen wir mit dieser Freiheit? Wie füllen wir diese freie Zeit? Diesen Fragen widmete sich bereits Aristoteles in seiner Politik, wo er dem mußevollen Leben bekanntlich einen höheren Stellenwert beimaß als dem in Arbeit. Der Stellenwert, welcher der Muße in der Antike zugesprochen wurde, erfuhr seinen wohl radikalsten Bruch in der bürgerlichen Gesellschaft: In dieser hörte jede Form der Inaktivität schlagartig auf ‚heroisch‘ zu sein, wie Walter Benjamin in seiner Passagenarbeit anmerkte – jede Form der Inaktivität, außer die erkauften Freizeitbeschäftigungen, so könnte hinzugefügt werden: Yoga, Spa, Hygge, Slow Food… Diese und noch viel mehr sind die Schlagwörter der Freizeitindustrie, die heute jene freie Zeit ausfüllen sollen. Ist es uns angesichts der alles durchdringenden Marktdynamiken überhaupt noch möglich einen anderen Takt anzuschlagen? Und wenn ja, wie sieht es aus, wenn wir einen anderen Takt anschlagen? Kann dies bereits als Form des Widerstandes gelesen werden?
Nassima Sahraoui, Dr. phil. des., ist eine Philosophin aus Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Theorie, an den Schnittstellen zwischen Philosophie und Literatur, der Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie, Kritischen Theorie und Dekonstruktion und bei Autoren, wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Jacques Derrida und Martin Heidegger. Sie publizierte einige Sammelbände, u. a. die Anthologie Kleine Philosophie der Faulheit, sowie Artikel zum Verhältnis von Messianismus und Demokratietheorie, zu Philosophie und Philologie und den Begriffen Muße, Faulheit, Arbeit und neuen Formen sozio-ökonomischer Kritik. Derzeit bereitet sie die Publikation ihres Buches zur Dekonstruktion des Begriffs der Potentialität (dynamis) vor und arbeitet an einem neuen Projekt zu Formen und Figuren des Widerstandes.
Philipp Frey, Karlsruher Institut für Technologie
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit. So ähnlich charakterisierte Theodor W. Adorno die Debatten seiner Zeit zu den sozialen Implikationen des technologischen Fortschritts. Seit einigen Jahren ließe sich sagen: das Gespenst ist zumindest diskursiv mit Macht zurück. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die herrschende Politik haben sich derweil verbündet, um der Gefahr einer automatisierungsbedingten Arbeitslosigkeit zu begegnen. Doch welche Substitutionspotentiale werden in der Forschung tatsächlich gesehen? Und in was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, wenn der Umstand, dass wir Bedürfnisse mit weniger menschlicher Arbeit befriedigen können, als Katastrophe erscheint? Und nicht zuletzt: kann eine stete Ausweitung der Produktion tatsächlich die Antwort auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Automatisierung sein oder sollten wir uns nicht viel eher die Frage stellen: Wie viel Arbeit können wir uns in Zukunft eigentlich noch leisten?
Philipp Frey ist Doktorand am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie. In seiner Forschung befasst er sich mit der Zukunft der Arbeitsgesellschaft und Utopien der Automatisierung. Er studierte Neuere und Neueste Geschichte und Philosophie an der Universität Tübingen und der Arctic University of Norway. Er ist außerdem Vorstandsmitglied des Zentrums für emanzipatorische Technikforschung, einem Netzwerk kritischer Wissenschaftler*innen mit dem Ziel, den technischen Fortschritt so zu gestalten, dass er die Spaltungen der Gesellschaft nicht weiter verstärkt, sondern im Gegenteil allen Menschen materielle Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht.
In unserer Reihe ITZ time to talk! – Probenauftakt laden wir Referent*innen aus Politik, Wissenschaft, Journalismus und anderen Bereichen ein, um die Themen der Produktionen zu beleuchten. In der gemeinsamen Diskussion mit dem Ensemble, den Produktionsteams und der interessierten Öffentlichkeit entsteht so die Möglichkeit, die Inszenierungsprozesse gedanklich vom Start weg bis zur Premiere zu begleiten.
Hinweis Studierende können durch regelmäßige Teilnahme im Rahmen des Studium Professionale ECTS-Punkte erwerben.
Eintritt frei.
Zur besseren Planbarkeit bitten wir um Anmeldung: anmeldung@zimmertheater-tuebingen.de