Plötzlich unsichtbar

Am 18. März 2023 feiert das neue Stück „ein quäntchen von allem“ von Autor* und Regisseur* Peer Mia Ripberger Premiere im Löwen. Erzählt wird die Geschichte vom Verschwinden einer queeren Figur aus einer stark genormten, bürgerlichen Welt. Komponist Justus Wilcken entwickelt dazu die Musik und Austatterin Lisa Nickstat debütiert mit diesem Projekt am ITZ. Dramaturgin Corinna Huber spricht mit dem Produktionsteam darüber, wie man eine Geschichte der Unsichtbarkeit auf die Bühne bringt.

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Justus Wilcken, Peer Mia Ripberger, Lisa Nickstat, Corinna Huber

 

Peer, worum geht es in "ein quäntchen von allem“?

Peer Mia Ripberger: Alles beginnt damit, dass die Figur Emilio Muschel eines morgens aufwacht und feststellt, dass sein Partner Laurin Nussbaum verschwunden ist. Er ist einfach weg. Hat nichts hinterlassen und nichts mitgenommen. Emilio fängt an zu suchen und wendet sich an scheinbar vertrauenswürdige Institutionen wie Polizei, Ärztinnen und auch die Freunde. Doch die sind alle keine große Hilfe. Es ist als würde Laurins Verschwinden niemanden interessieren. Gleichzeitig bemerkt Laurin selbst, dass er verschwunden ist. Sein Körper ist weg, denken kann er aber noch. Laurin befindet sich quasi in einer inneren Welt. Dort fängt er an seine Biographie nach Gründen und Erfahrungen des Unsichtbarseins abzusuchen. Und die haben viel mit einer früheren Beziehung, seinem Queersein, gesellschaftlichen Körpernormen und eigener Körperscham zu tun.

Auf der Bühne von Un/Sichtbarkeit zu erzählen ist ein reizvolles Vorhaben. Was hat dich veranlasst, dich dem anzunehmen?

PMR: Das Gefühl unsichtbar zu sein ist in meinem Leben irgendwie omnipräsent. Es geht um eine Erfahrung, die ich, wie auch andere queere Menschen, schon immer und in allen möglichen Situationen mache. Mir geht es dabei nicht nur um die politische Forderung nach mehr Sichtbarkeit von queeren Lebensrealitäten im Sinne von Repräsentanz. Die ist natürlich wichtig. Ich meine aber etwas viel Grundlegenderes, vielleicht Banales: Im Alltag nicht wahrgenommen zu werden oder nicht so, wie man es erwarten oder sich wünschen würde. Das fängt ganz simpel an, wenn mein Mann und ich für Brüder gehalten werden. Geht weiter, wenn ich mit Freundinnen tanzen gehe und merke, die werden von mehr oder weniger attraktiven Typen angeflirtet und ich ignoriert. Und geht bis dahin, wo ich explizit als Mann wahrgenommen und adressiert werde, obwohl ich mich selbst nie so gesehen habe. In den meisten Fällen geht es nicht mal um Homofeindlichkeit oder ähnliches, sondern ganz schlicht um alltägliche Missverständnisse. Und doch passiert das ständig und schreibt sich so in meine Selbst- und Weltwahrnehmung ein. Ein Quäntchen dieser Erfahrung steckt in allem, was ich erlebe, mit drin.

Ihr erzählt das Unsichtbarwerden nicht nur im Text auf zwei verschiedenen Ebenen, sondern auch mithilfe anderer Theatermittel. Wie greifen Bühnenbild und Musik das Verschwinden auf? 

Lisa Nickstat: Für die Bühne ist ein locker gewebter Stoff, Gaze genannt, elementar. Die Bühne besteht aus drei Räumen mit Wänden daraus. Gaze hat die faszinierende Eigenschaft je nach Lichtsituation blickdicht oder durchsichtig zu sein. Das lässt ein Spiel mit der Un/Sichtbarkeit der Spielenden zu. Wird der Raum vor der Gaze beleuchtet, wirkt er wie ein abgeschlossener Raum. Die Welt dahinter bleibt unsichtbar. Beleuchtet man aber eine Person, die hinter der Gaze steht, wird diese plötzlich sichtbar. Es ist als öffne sich eine verborgene Gegenwelt. Das ist ein spannendes räumliches Mittel, um sowohl von Emilios Suche als auch vom verschwundenen Laurin zu erzählen. 

Justus Wilcken: Ich habe nach Musik gesucht, die auch vom Verschwinden handelt. Bei Frédéric Chopin bin ich fündig geworden. Er ist Ideenvater meiner Kompositionen, für die ich mich aus seinen 24 Präludien, insbesondere Op. 28 No. 4, motivisch bediene. Hinzukommt: Chopin war Zeit seines Leben homosexuell. Das wurde bislang in der Musikwissenschaft kaum beachtet. 2020 wurde das Thema medial aufgegriffen und hat in Polen, wo Chopin als Nationalheld gefeiert wird, zu einem Skandal geführt. Chopin hat also auch biographisch mit unserem Stück zu tun.

Laurin wird zwar als Mann gelesen, steht aber zwischen den Geschlechtern oder außerhalb davon. Welche Formen von Geschlecht macht das Kostümbild sicht- bzw. unsichtbar?

LN: Die Welt, in der Emilio Muschel sich bewegt, ist eine sehr starre, bürgerliche Welt. In ihr wird die Binarität der Geschlechter, also Mann und Frau, sehr strickt gelebt und eingehalten. Dort tragen die weiblich gelesenen Darstellerinnen klassische Frauenkleidung: Kleid oder Rock und hohe Schuhe. Die männlich gelesenen Darsteller hingegen tragen Hose, Hemd und Sakko. Hier hat alles seine Ordnung. In der anderen Welt aber, wo sich der verschwundene Laurin befindet, weicht diese Zweigeschlechtlichkeit auf. Dort ist alles möglich, was das Annehmen unterschiedlichster Geschlechtsidentitäten angeht. 

Als Theatermacher*innen seid ihr mit eurer Arbeit stets für ein Publikum sichtbar. In welchen Momenten seid ihr gerne unsichtbar?

PMR: Wenn ich im Theater im Publikumsraum sitze, das Saallicht ausgeht und ich einfach nur zuschauen darf, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen, wie ich selbst gerade wahrgenommen werde.

LN: Beim Cornern an belebten Plätzen, um Menschen zu beobachten. Oder beim Tanzen. Da mag ich es, in der Menge zu verschwinden.

JW: Immer täglich zwischen sechs und zehn Uhr morgens.